24.06.2025; BT-Drs.: 21/586
Antrag der Abgeordneten Mareike Hermeier, Dr. Fabian Fahl, Luigi Pantisano, Marcel Bauer, Lorenz Gösta Beutin, Violetta Bock, Jorrit Bosch, Katalin Gennburg, Ina Latendorf, Caren Lay, Sahra Mirow, David Schliesing, Sascha Wagner und der Fraktion Die Linke
Keine unnötigen Atomtransporte mit hoch radioaktivem Abfall aus Jülich ins Zwischenlager Ahaus
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Ab Sommer dieses Jahres drohen Atomtransporte von Jülich nach Ahaus quer durch Nordrhein-Westfalen.
Das Oberverwaltungsgericht in Münster hatte im Dezember 2024 entschieden, dass die 152 Castorbehälter mit rund 300.000 hochradioaktiven Brennelementen aus dem ehemaligen Versuchsreaktor in Jülich im Zwischenlager in Ahaus eingelagert werden dürfen, und damit eine Klage der Stadt Ahaus abgewiesen.
Im Januar 2025 hat das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) den Entwurf der Transportgenehmigung für die Jülicher Brennelemente nach Ahaus an das nordrhein-westfälische Ministerium für Wirtschaft (MWIKE NRW) als Aufsichtsbehörde geschickt; die Stellungnahme des MWIKE NRW ans BASE erfolgte am 20.3.2025. Sowohl der Entwurf der Transportgenehmigung als auch die Stellungnahme des MWIKE sind nicht öffentlich.
Bei Genehmigung des Transports wären das 152 Schwerlasttransporter mit bestrahlten Brennelementen auf den Straßen und Brücken Nordrhein-Westfalens. Pro Sattelzug kann nur ein Behälter des AVR Jülich (Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor Jülich) transportiert werden. Nach derzeitiger Projektplanung wird mit einer Gesamtdauer von zwei Jahren ab Beginn der Transporte gerechnet.
Die rund 300.000 abgebrannten Brennelemente aus dem Betrieb des stillgelegten Jülicher Atomversuchsreaktors AVR werden bisher im AVR-Behälterlager am Standort des Forschungszentrums Jülich in Castor-Behältern zwischengelagert. Betreiberin des Zwischenlagers und für eine sichere Lagerung oder einen sicheren Abtransport der Brennelemente verantwortlich ist die bundeseigene Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen mbH (JEN).
Das AVR-Behälterlager in Jülich war von 1993 bis 2013 genehmigt. Eine Verlängerung der Genehmigung erforderte jedoch Nachweise zur Erdbebensicherheit, die dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, z. B. basierend auf einem theoretisch möglichen Extremerdbeben. Da diese kurzfristig nicht erbracht werden konnten, erließ das Wirtschaftsministerium NRW 2014 schließlich eine atomrechtliche Anordnung zur unverzüglichen Entfernung der Brennelemente aus dem bestehenden Jülicher Zwischenlager aus, die aber bis heute nicht umgesetzt wurde. Ab dem 1.7.2013 und auch heute noch lagern die Brennelemente ohne Genehmigung in Jülich. Seit mehr als zehn Jahren versuchen unterschiedliche Bundesund NRW-Landesregierungen, mit den abgebrannten Brennelemente des AVR Jülich irgendwie umzugehen. In dieser Zeit wäre es möglich gewesen, ein den Sicherheitsanforderungen genügendes neues Zwischenlager in Jülich zu errichten. Diese Option wurde im Bund und im Land nur wenig und seit Amtsantritt der Vorgängerregierung 2021 defacto gar nicht mehr verfolgt.
Noch am 17.4.2025 hat die Vorgängerregierung in ihrer Antwort durch die ehemalige Staatssekretärin Claudia Müller des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auf die Schriftliche Frage 60 des Bundestagsabgeordneten Dr. Fabian Fahl (Die Linke) auf Bundestagsdrucksache 21/42 mitgeteilt, mit dem Neubau eines Zwischenlagers in Jülich und dem Transport der bestrahlten Brennelemente nach Ahaus gebe es zwei Optionen für den Umgang mit den AVR-Brennelementen am Standort Jülich. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages sei demnach im Bericht des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 7.9.2022 (Ausschussdrucksache 20(8)1649) darüber informiert worden, dass die Beteiligten die Räumungsoption der Verbringung der Brennelemente in das Zwischenlager nach Ahaus aus wirtschaftlichen und zeitlichen Gründen als grundsätzlich vorzugswürdig einordnen.
Diese Positionierung steht im klaren Widerspruch zu der der NRW-Landesregierung. In der Koalitionsvereinbarung von CDU und GRÜNEN in NRW für die Jahre 2022– 2027 heißt es wörtlich: „Wir setzen uns für eine Minimierung von Atomtransporten ein. Das gilt auch für Transporte aus anderen Bundesländern. Im Fall der in Jülich lagernden Brennelemente bedeutet dies, dass wir die Option eines Neubaus eines Zwischenlagers in Jülich vorantreiben.“
Die vorherige Bundesregierung hatte außerdem in der oben genannten Antwort der ehemaligen Staatssekretärin Claudia Müller (BMBF) vom 17.4.2025 geschrieben, der Haushaltsausschuss des Bundestages fordere in seinem Maßgabebeschluss vom 30.11.2022 (Ausschussdrucksache 20(8)3443), die kostengünstigere Verbringung der Brennelemente nach Ahaus zu verfolgen, falls das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) die Mehrkosten eines Neubaus in Jülich nicht tragen möchte. Eine solche Absichtserklärung seitens des Landes NRW sei der Bundesregierung nicht bekannt.
In einem Bericht an den Wirtschaftsausschuss des NRW-Landtags vom 23.5.2025 (NRW-Landtagsvorlage 18/3924; www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV18-3924.pdf) verweist die NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur dahingegen darauf, dass sich Bund und Land 2015 in einer „Verwaltungsvereinbarung“ darauf geeinigt hätten, sich sämtliche Entsorgungs- und Lagerkosten für die Jülicher Brennelementekugeln im Verhältnis 70 : 30 zu teilen. Dies sei schon ein Entgegenkommen des Landes gewesen, weil der Atommüll ja in Verantwortung des Bundes entstanden sei. Wörtlich heißt es dann: „Vor diesem Hintergrund ist das […] ‚Angebot des Bundes‘ als Versuch zu werten, sich in der Frage ‚Transport oder Lagerneubau‘ der Entscheidungsverantwortung zu entziehen und hohe Kosten auf das Land NRW abzuwälzen.“
Hier tritt ein offensichtlicher Interpretations- und Zielkonflikt zwischen dem Bund und dem Land NRW zu Tage, der aber in der Konsequenz zu einem sicherheitspolitisch äußerst gefährlichen Dauereinsatz zahlreicher Polizeikräfte zum Abtransport der Castor-Behälter von Jülich nach Ahaus führen kann, weil Bund und Land NRW anscheinend bisher leider nicht gewillt waren, eine zukunftsweisende Lösung am Standort Jülich in gemeinsamer Verantwortung herbeizuführen (vgl. https://umweltfairaendern.de/2025/05/13/atommuell-nrw-bundesrechnungshof-und-der-beschluss-imhaushaltsausschuss-2022/). Das muss sich ändern.
Schon seit 2022 ist klar, dass die Erdbebensicherheit im Jülicher Zwischenlager entgegen früherer Annahmen gegeben ist. Das bestätigt auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Damit ist der Hauptgrund für die unverzügliche Räumungsanordnung des Jülicher Zwischenlagers von 2014 entfallen. Die gefährlichen Castor-Transporte quer durch NRW haben also nun noch weniger als zuvor eine sicherheitspolitische Begründung.
Nach Ausräumung der noch vorhandenen Nachweislücken könnte zudem die unverzügliche Räumungsanordnung aufgrund veränderter Umstände widerrufen werden. Rechtlich zulässig wäre eine teilweise Aussetzung der Räumungsanordnung und deren Flankierung durch eine Duldungsverfügung. Mit der Duldungsverfügung wäre anzuordnen, dass befristet bis zur Genehmigung und der Realisierung eines neuen Zwischenlagers oder der Wiedergenehmigung des bestehenden Zwischenlagergebäudes die vorhandenen Castorbehälter im bisherigen Lager verbleiben dürfen.
Vorliegende Gutachten (vgl. Rechtsanwälte Günther, Dr. Ullrich Wollenteit; www.ausgestrahlt.de/media/filer_public/b9/66/b9669e75-2e98-4400-a2f3-e1579bd7cfb9/kurzgutachten.pdf) zeigen, dass eine kurzfristige Ertüchtigung des bestehenden Jülicher Castor-Lagers und eine langfristige Lagerung in einem möglichst sicheren Zwischenlager-Neubau in Jülich möglich ist. Doch dessen Finanzierung wurde in der vergangenen Legislaturperiode durch den oben genannten Maßgabebeschluss des Haushaltausschusses vom 30.11.2022 bedauerlicherweise verhindert.
Im Gegensatz zum Jülicher Zwischenlager gibt es im Zwischenlager Ahaus, in das der Atommüll aus Jülich transportiert werden soll, keine Möglichkeit, defekte Castoren zu reparieren. Schon 2036 erlischt zudem die Genehmigung des Zwischenlagers. Niemand weiß, was mit den hochradioaktiven Hinterlassenschaften dann passieren soll. Das Ahauser Zwischenlager bietet keine langfristige, ausreichende Sicherheit für den hochbrisanten Atommüll. So kommt eine von der Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ jüngst in Auftrag gegebene Studie der renommierten Sicherheitsexpertin für Atomanlagen, Dipl.-Phys. Oda Becker (www.ausgestrahlt.de/media/filer_public/28/79/2879b772-0fdd-4312-bc4d-16c3f52a291f/zwischenlager-ahaus-brokdorfausgestrahlt.pdf) zu dem Ergebnis, dass das Zwischenlager für hochradioaktiven Atommüll in Ahaus nicht ausreichend gegen gezielte Angriffe geschützt ist.
Die Vermeidung der 152 Castor-Einzelfahrten zur Verbringung der gesamten hochradioaktiven Abfälle von Jülich nach Ahaus ist mit einem erheblichen Sicherheitsgewinn verbunden. Die Transportstrecke führt durch das dichtbesiedelte Ruhrgebiet. Streckenanlieger im Bereich der Transportstrecke sind Risiken durch mögliche terroristische Angriffe ausgesetzt. Jeder Transport müsste umfassend vor Störmaßnahmen und Einwirkungen Dritter (SEWD) mit polizeilichen Mitteln geschützt werden.
Angesichts der enormen Risiken beim Transport der radioaktiven Fracht und der ohnehin bis 2036 befristeten Lagergenehmigung für hochradioaktive Abfälle in Ahaus sind die 152 Castor-Transporte auch angesichts der hohen Anzahl und des enormen Sicherheits- und Sicherungsaufwands nicht angemessen. Vielmehr muss zukünftig die Option des sicheren Verbleibs der Brennelemente in Jülich als grundsätzlich vorzugswürdig eingeordnet werden. Das öffentliche Interesse zum Verbleib der Castoren in Jülich überwiegt kurzfristige haushälterische Argumente und jegliche privatwirtschaftlichen Interessen.
Auch die Tatsache, dass die NRW-Landesregierung bereits der neuen Bundesregierung bezüglich des in Jülich lagernden Atommülls geschrieben haben soll, ist als gutes Zeichen zu werten, dass es gelingen kann, eine zukunftsweisende Lösung am Standort Jülich in gemeinsamer Verantwortung von Bund und Land NRW herbeizuführen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, dass die Verantwortung für die langfristige Lagerung und Vorbereitung des Atommülls für die Endlagerung bei den Verursachern in Jülich verbleiben wird;
2. gemeinsam mit den Betroffenen und Beteiligten aus den Ministerien, den involvierten Unternehmen und den Umweltverbänden in NRW eine Verständigung herbeizuführen, die sowohl die Sicherheit als auch die gesellschaftliche Unterstützung der Vereinbarungen zur Zukunft der AVR-Castoren ermöglicht und verbessert sowie unnötige Atomtransporte vermeidet;
3. sicherzustellen, dass jede Maßnahme, die zu einer Verständigung und einer Verbesserung führt, gemeinsam wie bisher vereinbart finanziell im Verhältnis 70 zu 30 von Bund und Land getragen wird. Das gilt insbesondere für die Bereitstellung der Mittel für einen möglichst sicheren Zwischenlager-Neubau in Jülich und die dafür notwendigen Grundstückskäufe;
4. in diesem Sinne ihrer Aufsichtsverantwortung bei der für eine sichere Lagerung der Brennelemente verantwortlichen, bundeseigenen Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN) gerecht zu werden und insbesondere sicherzustellen, dass Atomtransporte mit bestrahlten radioaktiven Abfällen aus Jülich ins Zwischenlager nach Ahaus nicht durchgeführt werden, auch wenn möglicherweise die rechtlichen Voraussetzungen mit einer Transportgenehmigung vorliegen sollten;
5. ein schlüssiges, mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitetes Gesamtkonzept zur maximal sicheren Langzeit-Zwischenlagerung von allen Atommüll-Sorten, also schwach-, mittel- und hochradioaktiven Abfällen, in Deutschland vorzulegen.
Antrag: Keine unnötigen Atomtransporte mit hoch radioaktivem Abfall aus Jülich ins Zwischenlager Ahaus; BT-Drs. 21/586 (PDF)